Damit der Reiter von der dreidimensionalen Bewegungsübertragung profitieren kann, müssen verschiedene Faktoren erfüllt sein, wie beispielsweise eine physiologisch korrekte Sitzhaltung mit einem beweglichen Becken sowie ein Therapiepferd mit geeigneten, taktreinen Bewegungsmustern, das zudem von seiner Bewegungsamplitude her zum jeweiligen Reiter passt.
Gerade den Bewegungsimpulsen des Pferdes, die beim Reiter „feine gegensinnige Rotationsbewegungen der Wirbelsäule auf verschiedenen Höhen“ auslösen, kommen eine tragende Rolle zu. Nach Strauß spielen diagonale Bewegungsmuster bei der neurophysiologischen Entwicklung der Motorik von Kindern und dem Funktionieren der Motorik bei Erwachsenen eine entscheidende Rolle.
Eine Untersuchung einer japanischen Forschergruppe ergab, dass die Bewegungsimpulse eines Pferdes im Schritt und die des menschlichen Gehens sowohl quantitativ als auch qualitativ vergleichbar sind, so dass das Reiten im Schritt motorisch sensorischen Input generieren kann, die dem eines menschlichen Gehens ähnelt. Unter guten Voraussetzungen scheint es möglich, funktionelle und physiologisch gesunde, symmetrische Bewegungsmuster im Reiter hervorzurufen und neuronal auszubilden, indem dieser vom Pferd dreidimensional rhythmisch bewegt wird.
Vestibuläre und Propriozeptive Stimulation
Stellt man sich das Reiten im Schritt in einem dreidimensionalen Koordinatensystem vor, erhält man ein Bild der vestibulären und propriozeptiven Reize in jeder Achsenrichtung, die auf den Reiter einwirken. Pro Minute werden bei einem Großpferd ca. 110 derartige Schwingungsimpulse übertragen, die vom Körper des Reiters aufgenommen, verarbeitet und durch Haltungsanpassungen beantwortet werden müssen. Diesen Effekt würde man auch erhalten, wenn man den Bewegungsimpulsen eines Reitsimulators ausgesetzt wäre.
Beim Lebewesen „Therapiepferd“ kommen zu den rhythmischen, gleichmäßigen Bewegungsimpulsen feinste Abweichungen, die stets eine minimal veränderte Bewegungsantwort des Reiters einfordern und neuronal gebahnt werden müssen. Pferd und Reiter treten zudem in einen „Bewegungsdialog“, bei dem das gut trainierte Pferd immer wieder versucht, seinen Reiter „ins Gleichgewicht zu setzen“, ihn einzuschwingen und auszubalancieren. Der Bewegungsdialog des Reiters mit dem Pferd ermöglicht ein motorisches Lernen komplexer, funktioneller Bewegungsabläufe, die bei Kindern mit neuromotorischer Unreife unter Umständen noch nicht vollständig im Zentralen Nervensystem abgebildet sind.
Ein Kind mit Restreaktionen eines ATNR und einer damit verbundenen mangelnden bilateralen Integration profitiert möglicherweise von Bewegungsimpulsen des Pferdes, welche flüssig die Mittellinie überkreuzen und stets aktiv vom neuromotorischen, lernenden System des Kindes beantwortet werden müssen.
Aus vestibulärer Sicht werden die Gleichgewichtsorgane bereits bei einer gleichförmigen Schrittbewegung in allen drei Dimensionen stimuliert. Bezieht man Änderungen im Tempo (langsamer Schritt / schneller Schritt / Anhalten) und in der Richtung (Reiten von großen und kleinen Kreislinien / Wendungen) mit ein, so nutzt man die entstehenden Beschleunigungs-, Brems und Fliehkräfte für eine vielfältige vestibuläre Stimulation.
Kinder mit neuromotorischer Unreife, die vestibulär unsicher sind, wie es beispielsweise bei Kindern mit Restreaktionen eines Moro Reflexes der Fall ist, profitieren davon, dass die Bewegungsreize sich nicht im ohnehin schon unsicheren Stand, sondern im Sitzen mit einer vergrößerten Auflagefläche (Gesäß und Oberschenkelinnenseiten) vollziehen, da sich dadurch ein größeres Sicherheitsgefühl ergibt. Bildlich gesprochen bekommen die Kinder einen stabileren Referenzpunkt für ihr „dreidimensionalen Koordinatensystems auf unsicherer vestibulär propriozeptiver Basis“ in Form einer großen, stabilen Masse des Pferdes unter sich, das sich dennoch dynamisch durch den Raum bewegt und vestibulär propriozeptive Impulse setzt.
Aus propriozeptiver Sicht kann bei hyper- oder hypotonen Kindern die Stimulation der Pferdebewegung und die dadurch erfolgende Aktivierung der Rumpf und Beinmuskulatur eine Normalisierung des Tonus zur Folge haben. Generell kann durch die permanente rhythmische Bewegung und damit wechselnde An- und Entspannung verschiedener Muskelpartien die gesamte Rumpfmuskulatur gestärkt werden, so dass sie bei Kindern mit neuromotorischer Unreife zunehmend als stabile Stützbasis zur Verfügung steht.
Posturale Reaktionen
Posturale Reaktionen entwickeln sich beim Säugling nachgeburtlich bis ins Alter von dreieinhalb Jahren hinein. Sie sollen ihn befähigen, seinen Körper entgegen der Schwerkraft aufrecht zu halten und diese Aufrichtung nach einer Störung des Gleichgewichts flexibel wieder herzustellen. In verschiedenen Stadien, in denen das Kind Teile der evolutionären Entwicklung nachvollzieht, gelangt es vom Kriechen (aped) über das Krabbeln (quadruped) in den aufrechten Stand und das freie Gehen (biped).
In jeder dieser Phasen muss sich das Kind in der jeweiligen Haltung neu an die Schwerkraft anpassen. Durch vielfältige Bewegungserfahrungen und Feedback aus seiner Umwelt werden neurologische Bahnen zwischen niedrigeren und höheren Zentren des Gehirns gebildet und primitive Reflexe gehemmt, so dass posturale Reaktionen eine stabile Basis für Willkürmotorik bieten. Die Entwicklung der Haltungskontrolle erfolgt nach Goddard Blythe „zephalokaudal (von Kopf bis Fuß) und proximal distal (von der Mitte nach außen), obwohl nach den ersten Lebenswochen die Entwicklung der Haltung und der koordinierten Bewegung auch vom kaudalen Ende aus (von unten nach oben) voranschreitet. Die Integration erfolgt über den Rumpf gegen Mitte des ersten Lebensjahres.“
Bei Kindern mit neuromotorischer Unreife, die zu uns in die Reittherapie kommen, ist häufig die zephalokaudale und proximal distale Reifung noch nicht abgeschlossen, so dass entweder die Füße, häufig aber auch die Rumpfmuskulatur noch nicht vollständig in die Haltungskontrolle einbezogen und auf der „Körperlandkarte“ des Kindes nur unzureichend abgebildet sind. Die Rumpfmuskulatur übernimmt noch keine adäquate Stützfunktion, was wiederum auf Kosten der Aufrichtung der Wirbelsäule und des Kopfes gegen die Schwerkraft geht. Das Rumpftraining durch die dreidimensionale Bewegungsübertragung kann sich hier in fördernder Weise auf den Einbezug des Rumpfes in eine gute Haltungskontrolle auswirken.
Auch die Entwicklungsstufen aped, quadruped und biped haben Kinder mit neuromotorischer Unreife häufig nicht abschließend durchlaufen, auch wenn sich ein Kind im Alltag bereits auf zwei Beinen fortbewegt. Besonders bei Kindern mit Restreaktionen eines ATNR ist häufig die Phase des Krabbeln (quadruped) ausgefallen bzw. verkürzt durchlaufen worden. Wichtige Erfahrungen mit posturalen Reaktionen in der quadrupeden, dynamischen Fortbewegung sind nicht oder nur unzureichend erfolgt, was sich negativ auf das statische und dynamische Gleichgewicht sowie in damit verbundenen Systemen wie beispielsweise der visuellen Wahrnehmung auswirken kann.
Es wäre interessant zu beobachten, ob der Bewegungsdialog mit einem quadrupeden Lebewesen solchen Kindern eine „Nachreifung“ und damit verbunden eine Entwicklung von posturalen Reaktionen ermöglichen könnte. Hierzu ist noch anzumerken, dass der Schritt des Pferdes keine rein diagonale Bewegung wie das menschliche Krabbeln ist, sondern sich Dreibein und Zweibeinstütz miteinander abwechseln. Dennoch werden im Reiter diagonale, spiralförmige Bewegungen hervorgerufen, die denen des menschlichen Krabbelns ähneln.
Eine 2019 veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Reiten helfen könnte, posturale Kontrolle zu verbessern. Sowohl propriozeptive Fähigkeiten bezüglich des statischen Gleichgewichts als auch der Tonus der posturalen Muskulatur während dynamischer Gleichgewichtsaufgaben waren bei fortgeschrittenen Reiterinnen besser entwickelt als bei Nicht-Reiterinnen. Allerdings weist Goddard Blythe darauf hin, dass motorische Trainingsprogramme, die auf eine Verbesserung der posturalen Reaktionen abzielen nur dann positive Ergebnisse aufweisen, wenn nur wenig oder keine Anzeichen einer primitiven Reflexaktivität vorliegen.
Beeinflussung des Zentralen Nervensystems
Japanische Forscher kamen 2019 zu dem Ergebnis, dass „Vibrationen“ [hier verstanden als Bewegungsimpulse], die vom Pferd auf den Reiter übertragen werden, das sympathische Nervensystem aktivieren, was sich positiv auf kognitive Faktoren und das Lernen auswirkt (konkret in der Studie untersucht wurde die Fähigkeit, adäquat auf Stimuli in Form einer Go/No-go-Aufgabe zu reagieren). Teil der Studie waren drei erfahrende Therapiepferde, von denen Pferd A und C eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems der im Schritt reitenden Kinder erzielten, woraufhin die Kinder in den kognitiven Tests signifikant besser abschnitten. Bei Kindern, die der Bewegungsübertragung von Pferd B ausgesetzt waren, wurde hingegen eine Aktivierung des parasympathischen Nervensystems festgestellt und keine signifikant bessere kognitive Leistung als die Kinder der Vergleichsgruppen. Der Unterschied beim Pferd B im Vergleich zu Pferd A und C bestand in der Bewegung der „Z-Achse“, so dass die Auf-ab-Bewegungen im Gegensatz zur Rechts-Links-Bewegungen und Vor-Zurück-Bewegungen verstärkt waren.
Interessant hierbei ist, dass die dreidimensionale Bewegungsübertragung vom Pferd auf den Reiter in der Lage ist, sich je nach Qualität der Bewegungen im Raum unterschiedlich auf das Zentrale Nervensystem auszuwirken. Die gezielte Auswahl eines Therapiepferdes für Kinder mit neuromotorischer Unreife im Hinblick auf seine dreidimensionale Bewegungsqualität eröffnet neue Möglichkeiten einer aktivierenden oder regulierenden Einflussnahme auf das ZNS. Bei dem in der Studie beschriebenen Pferd B, welches den Parasympathikus aktivierte, handelte es sich um einen so genannten Kiso, eine japanische Kleinpferderasse aus dem Kiso Valley. In der Publikation heißt es dazu: „The healing effects of riding Kiso horses are legendary in Japan.“