Der Kinderzirkus ist seit 2011 ein allsommerliches Highlight auf unserem Hof, bei dem 15-30 Kinder zusammen mit den Tieren eine Zirkusvorstellung erarbeiten, die im Anschluss vor den Eltern und Freunden aufgeführt wird. Er gibt den Kindern die Möglichkeit, sich in verschiedenen Disziplinen wie Akrobatik, Clownerie und Voltigieren auszuprobieren und dabei sowohl über sich selbst als auch über die Tiere auf dem Hof zu lernen.
Dabei folgt er den Grundprinzipien der modernen Erlebnispädagogik (Heckmair & Michl, 2004) und schließt alle Grunddimensionen der Zirkusarbeit (vgl. Ballreich, 2007) mit ein:
Die Nähe zur Natur und die Vielfalt an potenziellen Aufgaben führen dazu, dass die Kinder den Zirkus sowohl als auch physische als auch psychische Bereicherung erleben können. Im Gegensatz zu anderen erlebnispädagogischen Projekten steht das Pferd bei dieser Art der Erlebnispädagogik im Mittelpunkt.
Das Pferd spricht die emotionale Seite des Menschen an (Gäng, 2011) und lädt zur Reflexion der eigenen Gefühle ein: Sind mein Körper und meine Psyche in diesem Moment kongruent? Wie kann mein Körper kommunikativ mehr miteinbezogen werden? Wie führe ich ein Pferd und nehme gleichzeitig Rücksicht auf seine eigenen Bedürfnisse?
In diesem Jahr haben wir den Kinderzirkus zum ersten Mal in ein Theaterprojekt eingebettet. Die Kinder erzählten dabei die Geschichte der „Dummen Augustine“ von Otfried Preußler, einer Clownsfrau, die die Zirkusvorstellung rettet, als ihr Mann zum Zahnarzt muss, indem sie sich in die Manege wagt und die Vorstellung übernimmt, statt den Haushaltsaufgaben nachzukommen, mit denen sie normalerweise beschäftigt ist.
Die theaterpädagogische Herangehensweise unterstützt die körperbetonte, selbstreflektierte und gleichzeitig sozial orientierte Arbeit des Kinderzirkus, indem ein besonderer Augenmerk auf gemeinschaftlichen Aufgaben liegt:
Wenn die Vorstellung gelingen soll, müssen alle Kinder gemeinsam Verantwortung dafür übernehmen. Wie können dabei unterschiedliche Meinungen berücksichtigt werden? Wie werden ästhetische Differenzen überwunden (vgl. Klimant, 2022)?
Die Kinder lernen, die Perspektive der anderen zu übernehmen und im Zeitraum der Entwicklung des Stücks geduldig zu sein. Das Wechselspiel zwischen der Relevanz des Individuums und der Relevanz der Gruppe bringt auch den Umgang mit Aufmerksamkeit durch andere ans Tageslicht. Im Theater kann das Kind das „Rampenlicht“ erfahren, muss im Gegenzug aber auch lernen, dass in anderen Szenen ein anderes Kind auf der Bühne und damit im Mittelpunkt steht.
Der Kinderzirkus richtet sich an Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. Im Entwicklungsmodell von Anton Dosen (1997) stellt dies die fünfte Phase der emotionalen Entwicklung dar. Er nennt diese Phase „Beginnendes Realitätsbewusstsein“. In ihr seien Kinder verstärkt um die Anerkennung durch ihre Peer Group bemüht; der Wunsch nach Leistung, Lob und daraus resultierender Selbstachtung stünde im Vordergrund. Abwertung durch die Gruppe sei in dieser Altersphase besonders unangenehm und es bestünde ein ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung und Status. Die Erfahrungen in dieser Entwicklungsphase trügen dazu bei, dass Menschen ihre eigene Leistungsfähigkeit zunehmend realistischer einschätzen und beginnen, sich für Verantwortungsübernahme zu interessieren. Außerdem würden sich differenziertere Gefühle wie Gewissen, Schuld, Peinlichkeit und Scham entwickeln.
An diese Idee hat das diesjährige Zirkusprojekt angeknüpft, denn der Clown als Leitfigur in Preußlers Erzählung und als tragendes Subjekt der Zirkuserfahrung bietet eine einzigartige Möglichkeit, den eigenen Umgang mit Peinlichkeit und Scham zu reflektieren. Der Clown strebt nach etwas, das die meisten Menschen gerne verhindern möchten:
Er macht Dinge falsch, er scheitert vor riesigem Publikum, und das alles, um andere zum Lachen zu bringen. Dieses Verhalten ist Absicht und deshalb nicht mehr peinlich.
Obwohl bei vielen Kindern anfänglich Hemmungen bestanden, sich dieser Spielsituation auszusetzen, wurde die Möglichkeit von den meisten schon sehr bald wertgeschätzt und genutzt, um auch vermeintlich peinliches Verhalten auszuprobieren und das Thema Scham im eigenen Leben genauer zu untersuchen.
Scham ist eine komplexe aversive Emotion als Reaktion auf eine situative Inkongruenz zwischen Realselbst und Idealselbst, zum Beispiel bei sozialen Normüberschreitungen, ungewollter Aufmerksamkeit oder Misserfolg. Der Körper reagiert darauf mit einer sympathischen Stressreaktion, bei der ähnliche Hirnregionen aktiviert werden wie bei existenzieller Angst. Sally Dickerson (2004) konnte außerdem einen Zusammenhang zwischen Schamgefühlen und dem Botenstoff Tumor Necrosis Factor-α finden, der zu Entzündungssymptomen wie Röte und Hitze führt.
Man geht davon aus, dass die Funktion von Scham ist, Normanpassung zu gewährleisten. Dem Individuum ist es unangenehm, aufgefallen zu sein, und die Schamesröte signalisiert das auch physisch. Diese sichtbare „Reue“ wird von anderen Menschen intuitiv verstanden. So wurden rot gewordene Menschen in einer Studie von Semin und Manstead (1982) wohlwollender bewertet als Menschen, die nicht rot geworden waren. Scham reguliere in diesem Sinne das Verhalten, ohne eine direkte Sanktion durch die Gruppe erforderlich zu machen.
Voraussetzung dafür ist ein Gefühl des Selbst, um sich die Gedanken anderer in Bezug auf die eigene Person vorstellen zu können (Leary, 2007). Die Fähigkeit, sich selbst und anderen eigene Gedanken und Meinungen zuschreiben zu können, entwickelt sich ab dem vierten Lebensjahr. (Theory of Mind). Das zeigt zum Beispiel das False Belief Paradigma (Wimmer & Perner, 1983).
In welchen Situationen wir Scham empfinden, ist allerdings nicht universell gleich. Häufigkeit und Anlass für Schamgefühle werden zum Beispiel stark von der Kultur beeinflusst, in der wir aufwachsen (vgl. Fessler, 2004). Aber auch unsere persönlichen Lernerfahrungen prägen uns in dieser Hinsicht, weshalb die Kinder im Kinderzirkus dazu eingeladen waren, zu erzählen, in welchen Situationen sie in ihrem Leben Scham gefühlt haben.
Der Ablauf des diesjährigen Zirkusprojekts war in drei Teile gegliedert: Der Kennenlern-, der Aufbau- und der Übungsphase
In der Kennenlernphase durften die Kinder verschiedene Spiele spielen, um ein Gefühl füreinander und für die Tiere zu gewinnen. Dazu gehörte nach einer ersten Kennenlernrunde, in der es um die eigenen Stärken und Interessen ging, und einem Rundgang durch den Stall, auch ein Parcours, bei dem ein Kind mit verbundenen Augen von einem anderen durch die mit kleinen Hindernissen gespickte Stallgasse geführt wurde.
Neben der Vertrauensarbeit innerhalb der Paare sollten die Kinder damit für das Vertrauen sensibilisiert werden, das zwischen Mensch und Pferd bestehen muss, damit das Pferd lernen kann, kooperativ mitzuarbeiten, weil es selbst davon profitiert. Zudem gab es eine kleine „Bastelarbeit“, bei der in Form eines Herzes ein Aushängeschild für den diesjährigen Kinderzirkus gestaltet wurde.
Bereits am ersten Nachmittag ging es in die Aufbauphase. Hier wurde, um die Geschichte der Dummen Augustine einzuleiten, zum ersten Mal das Thema Clownerie und die Frage nach der Scham aufgeworfen. Die Kinder lernten den Unterschied zwischen kurzen Peinlichkeitsgefühlen und der länger andauernden und tiefergehenden Scham und sammelten Beispiele für Situationen, in denen sie sich selbst so gefühlt hatten. Dabei wurden vor allem Situationen in der Schule genannt. Die Kinder stellten fest, dass sie sich oft dann schämten, wenn sie etwas nicht gut konnten und andere das sahen. Diese Erkenntnis deckt sich mit der Ansicht von Wurmser (1999), der postulierte, Menschen würden sich dann schämen, wenn sie sich schwach fühlten.
Im Anschluss wurde die Geschichte der Dummen Augustine vorgelesen und besprochen. Dabei wurden auch die Rollen für die Zirkusaufführung verteilt. Die Kinder konnten sich für Rollen freiwillig melden. Besonders die jüngeren Kinder wurden für ihren Mut gelobt, wenn sie sich eine schwierigere Rolle zutrauten. Dabei meldete sich tatsächlich die jüngste Teilnehmerin (8 Jahre) für die Hauptrolle der Dummen Augustine.
Der erste Tag endete mit einer Reflexionsrunde, gemeinsamem Grillen und einer Nachtwanderung. Danach durften die Kinder auf dem Hof übernachten.
Der zweite Tag begann damit, dass die Kinder bei der Stallarbeit helfen konnten. Nach einem kleinen Gruppenspiel ging es dann weiter mit der Aufbauphase. Auf einem Holzpferd wurden Übungen fürs Voltigieren geübt, bevor die Kinder diese dann auf dem Pferderücken ausprobierten. Außerdem studierten sie einige akrobatische Übungen auf dem Boden ein.
Nach dem Mittagessen ging es in die konkrete Vorbereitung für die Zirkusaufführung. Die Kinder erarbeiteten in drei geleiteten Gruppen Szenen und Kunststücke (z.B. Slalom) mit den Eseln, den Ziegeln und unserem Fjordwallach Karlson, der im Stück als Löwe fungieren sollte. Hier wurde „Scham“ auch noch einmal thematisiert, um festzustellen, dass sich die Tiere nicht schämen, wenn sie eine Aufgabe nicht verstehen oder etwas falsch machen.
Die Eselgruppe studierte daraufhin eine Nummer ein, bei der es genau darum ging, dass die Esel ihre Parcours-Anweisungen partout nicht umsetzen, um das Publikum zum Lachen zu bringen.
Außerdem gab es am Nachmittag eine zweite Runde Voltigieren, um die Übungen zu festigen. Der Tag endete mit einem Abschlussspiel, bei dem sich die Kinder gegenseitig Komplimente auf einen am Rücken befestigten Zettel schreiben durften.
Der dritte Tag war dann vollständig der Aufführung gewidmet. Unterbrochen durch kleine freie Spielpausen wurde das Theaterstück der Dummen Augustine einstudiert. Dabei bekam jede Rolle eine eigene Auftrittsmusik, die den Ablauf des Stücks noch abwechslungsreicher und bunter machte.
Einige Kinder, die sich sehr offen für ihre Rollen gemeldet hatten, fanden es plötzlich doch ein wenig schwierig, sich auf die „Bühne“ (den Reitplatz) zu trauen. Das traf vor allem auf die Kinder in den Clownsrollen zu. Die Musik half ihnen dabei, sich in die Rolle einzufühlen und mutig zu sein. Sie wurden dabei unterstützt, indem sie nie allein auf der Bühne waren, sondern immer theaterpädagogisch begleitet wurden. Dabei durften auch die anderen Kinder Ideen einbringen, was manchmal zu kleinen Meinungsverschiedenheiten führte. In schwierigen Momenten feuerten sie sich gegenseitig an.
Nach der dem Mittagessen folgenden Generalprobe zogen die Kinder ihre Kostüme an und schminkten sich. Sie durften auch die Pferde mit Fingerfarben bemalen und so für die Zirkusvorstellung vorbereiten.
Die Vorstellung für die Eltern, Geschwister und Freund:innen begann um 18 Uhr und dauerte ungefähr eine Stunde. In die Geschichte der Dummen Augustine war die Zirkusvorstellung eingewoben, in der die Kinder ihre Akrobatikübungen, die Voltigierfiguren und andere Talente, z.B. Diabolo, vorführten. Das Stück endete mit einem Lauf, bei dem die Kinder den Reitplatz entlangrannten und zu Hans-Ulrich Pohls und Renate Stautners Stück „Hurra, hurra, der Zirkus, der ist da“ ihre Zuschauer abklatschten.
Das Projekt war ein voller Erfolg. Die Kinder hatten großen Spaß und bedankten sich im Anschluss für die Erlebnisse, auch bei den Pferden. Wir laden herzlich dazu ein, unsere Ideen weiterzuentwickeln und auf dem eigenen Hof umzusetzen. Wer mehr Inspiration und Anleitung möchte, sei dazu angeregt, einen Blick in das Buch „Kinderzirkus mit Pferden: Ein Leitfaden für Reitpädagogen“ zu werfen: https://www.bod.de/buchshop/kinderzirkus-mit-pferden-9783738679397
Ballreich, R., Lang, T., & Grabowiecki, U. V. (2007). Zirkus spielen. Das Handbuch für Zirkuspädagogik, Artistik und Clownerie. Stuttgart: Hirzel.
Dickerson, S. S., Kemeny, M. E., Aziz, N., Kim, K. H., & Fahey, J. L. (2004). Immunological effects of induced shame and guilt. Psychosomatic Medicine, 66(1), 124-131.
Fessler, D. (2004). Shame in two cultures: Implications for evolutionary approaches. Journal of Cognition and Culture, 4(2), 207-262.
Gomolla, A., Mündemann, N., & Gold, J. (2015). Kinderzirkus mit Pferden: Ein Leitfaden für Reitpädagogen. Books on Demand.
Gäng, M. (2011). Erlebnispädagogik mit dem Pferd: Erprobte Projekte aus der Praxis. Ernst Reinhardt Verlag.
Heckmair, B., & Michl, W. (2004). Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik, 5.
Klimant, T. (2022). Theaterspiel erleben und lehren: Fachdidaktik für den Theaterunterricht (Vol. 145). transcript Verlag.
Leary, M. R. (2007). How the Self became involved in affective experience: Three sources of self-reflective emotions.
Leary, M. R. (2007). Motivational and emotional aspects of the self. Annu. Rev. Psychol., 58, 317-344.
Sappok, T., & Zepperitz, S. (2019). Das Alter der Gefühle: über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Hogrefe AG.
Semin, G. R., & Manstead, A. S. (1982). The social implications of embarrassment displays and restitution behaviour. European Journal of Social Psychology, 12(4), 367-377.
Wimmer, H., & Perner, J. (1983). Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. Cognition, 13(1), 103-128.
Wurmser, L. (1999). Trauma, shame conflicts, and affect regression: Discussion of “wounded but still walking”.